Es fing an in den groen Sommerferien vor drei Jahren. Der Sommer 1960 in Berlin war schrecklich hei. Ich war viel
allein. Mein Freund Udo, der seit einem Jahr Maurer lernte, war auf Urlaub in Thuringen. Selbstverständlich habe ich
gelesen, gebadet, bin auch ins Kino gegangen; ich pinselte auch ein paar Bilder zusammen. Offen gestanden ist das Malen
mein Hobby. In jeder freien Minute sitze ich und pinsele. All Menschen, die ich kenne, halte ich auf dem Papier fest.
Manchmal erkennt man, wer es sein soll. Dann wundere ich mich, dass ich das gemalt habe. In meinem Zimmer, das ich
in Gedanken „mein Atelier" nenne, liegen viele Stöe von bemalten Blättern und Zeichnungen im Schrank und auf dem
Boden, zwischen Tisch und Sofa.
Eines Tages stand ich etwas früher auf, denn ich wollte in meiner Stube Ordnung machen. Da hörte ich Tante Bettys
belle feste Stimme: „Micki, mach schnell, sonst wirst du den Elf-Uhr-Zug nicht erreichen". Na ja, Tante Betty ist mit der
Pünktlichkeit verheiratet. An jenem Augusttag nämlich musste ich Tante Trixi in Westberlin besuchen. Sie war nach dem
„Familiengesetz" an der Reihe. Nun will ich berichten, wie ich zu meiner Familie kam.
Es war an einem Apriltag 1945. Berlin wurde nachts, morgens und nachmittags bombardiert. Es gab keinen Himmel
mehr, nur noch schwarzen Rauch, durch den manchmal die Frühlingssonne schimmerte. Als die drei Schwestern unter
ihrem zerstörten Haus aus dem Keller krochen, lag auf der Strae zwischen den Trummem rneine Mutter. Sie war schon
tot, aber sie hielt mich noch im Arm. „Den nehmen wir mit!" sagte Tante Betty. Die beiden Schwestern waren
einverstanden.
Sie haben mir hundertmal erzählt, wie das war, als ein blasser Sonnenstrahl auf mein Gesicht fiel. Ich lächelte, und sie
hatten mich all drei sofort lieb. Nach dem Krieg hat sich Tante Betty auf dem Rathaus ein Schriftstück geholt, dass sie
mich behalten darf, falls sich kein leiblicher Verwandter findet. So bin ich bei Tante Betty aufgewachsen. Tante Betty ist
Schaffnerin bei der Eisenbahn. Sie kümmerte sich um mich wie eine Mutter. In den ersten Nachkriegsjahren fiel es ihr
recht schwer, mich zu erziehen. Tante Betty musste unermüdlich arbeiten, damit wir zu essen hatten und die
Gasrechnung, die Miete und die Kleidung bezahlen konnten. Als sie mich gefunden hatte, hatte sie nicht einmal eine
Decke fur mich. Sie verfluchte Hitler, weil er den Krieg und das Unglück über das Volk gebracht hatte. Sie wollte mich
zu einem klugen und mutigen Jungen erziehen, damit ich ein besseres Deutschland aufbauen helfe.
Jetzt ist klar, dass Tante Betty mehr Recht auf mich hatte als Tante Fina, ganz zu schweigen von Tante Trixi. Tante
Fina ist Verkäuferin im Fleisch-Konsum. Von den drei Schwestern ist sie die älteste und die dickste. Als ich noch klein
war, hatte ich Tante Fina gefragt, ob sie meine Orna sein will. Na, sie war beleidigt. Sonst mag sie mich sehr und
kummert sich um mich so gut sie kann. Tante Trixi mag ich am wenigsten. Sie ärgert sich ohne Grand und weint
schrecklich gern. Sie behauptet, sie hat eine komplizierte Seele und darum ist sie feiner als ihre Schwestern. Tante Betty
aber glaubt, das kommt davon, dass sie sich nie überarbeitet und zu viel Zeit hat. Tante Trixi bekommt hait als
Postbeamtenwitwe eine Rente und braucht nicht zu arbeiten.
Zwischen den drei Tanten gab es oft Streit wegen meiner Erziehung, deshalb war ich oft unzufrieden inmitten dieser
„Tantenwirtschaft". Lieber ein Onkel als drei Tanten, dachte ich. Als kleiner Junge malte ich eines Tages einen schönen
Mann mit Hornbrille und sagte: "Das ist mein Papa". Von meinem leiblichen Vater war mir nicht viel geblieben. Auf der
Geburtsurkunde, die meine Mama mir in einem Beutelchen um den Hais gehangt hatte, stand: „Rechtsanwalt Dr. Gregor
Mager, wohnhaft in Berlin-Grünau. Was soll ein Junge mit so ein paar durren Worten anfangen? Da ist es gut, wenn er
wenigstens einen gemalten Vater hat.
Besonders viel Streit unter den Frauen gab es wegen meines künftigen Berufes. Früher waren die Tanten stolz auf
„mein Talent" und hatten jedes Blättchen von mir gesammelt. Nachdem mein Zeichnenlehrer zu ihnen gesagt hatte, ich
bin wirklich sehr begabt und muss später auf die Akademie, waren sie nicht mehr so begeistert. Tante Betty wollte, dass
ich Lokomotivführer werde. Tante Trixi sagte, ich soll zu ihr nach Westberlin kommen und Reklamezeichner lernen. Sie
meinte, in diesem Beruf kann man nicht nur Erfolg haben, sondern auch eine Menge Geld machen. Tante Fina wünschte,
ich soll als Hotelboy anfangen, um später Hoteldirektor zu werden. Ich persönlich will weder Reklamezeichner noch
Hoteldirektor werden. Ich möchte auf die Kunstakademie gehen und Maler werden.
Vokabeln
erkennen (erkannte, ; ich habe ihn gleich erkannt; einige erkannt) vt
Stadviertel konnte ich nicht erkennen
Stube f-, -n ; eine große, kleine, hohe, niedrige, enge
; Kinderstube ; er hatte eine gute
Kinderstube
erreichen vt 1) ; ein Ziel, eine Stadt, das Ufer ~; die
Lager spät in der Nacht; 2) ; sein Brief (sein Telegramm)
erreichte sie nicht mehr; den Zug ~