Ich habe ins Schwarze getroffen, denn Annas Gesicht verfinstert sich wie der Himmel vor einem
Schneesturm. Zum Glück platzt Tine in unsere gemütliche Runde.
"Wir versammeln uns um neun Uhr alle bei Hilde. Sie spendiert einen Eierlikör." Und schon ist sie wieder
draußen.
"Ist das Pflicht?" frage ich, denn alles liebe ich außer Eierlikör.
"Ich gehe ins Bett", erklärt Kerstin.
Ich entschließe mich mitzukommen. Da lerne ich wenigstens die anderen kennen. Achtzehn Mädchen, auf
Parterre und ersten Stock verteilt. Das sind Hausmutter Hildes "Kinder".
Wir sitzen im Kreis in ihrer gemütlichen Stube und nippen artig an unserem "Longdrink". Ein richtiger Zug
und das Likörgläschen ist mitverschluckt.
Frau Hilde nimmt die Kappe von der Flasche, und Dora flüstert: "Will jemand noch ein Fingerhütchen voll?"
Die das gehört haben, kichern, nur Anna hat noch ihre Eiszeitmiene.
"Wir sind hier nicht zusammengekommen, um uns zu betrinken", erklärt Frau Hilde mit Blick auf Dora, "es
gibt einen Anlass..." Sie macht die Flasche wieder zu.
"Der "Siebenschläfer" hat Geburtstag", wirft Sissi dazwischen, eine Kleine aus der Neunten. Daisy grinst
verlegen.
"Herzlichen Glückwunsch - alles Liebe, Daisy - gut Schlaf, Alte!" Die Mädchen schreien durcheinander.
"Halt, seid doch still!" Frau Hilde versucht verzweifelt, Ruhe zu schaffen. "Daisy, das tut mir leid. Ich hab
nichts gewusst von deinem Geburtstag. Der Anlass hier ist ein trauriger", sie wartet, bis wir still sind, "aus
meinem Zimmer sind fünfzig Mark verschwunden."
Das hat getroffen. Sogar Anna wacht auf und fühlt sich verpflichtet, was zu sagen: "O Gott, Frau Hilde, wie
furchtbar."
"Mach kein Drama daraus, Anna. - Ihr wisst, dass es nicht das erste Mal ist - vor einem Monat ist Sylvies
Brosche verschwunden und im Oktober zwanzig Mark. Ich möchte wirklich niemand verdächtigen ..." Sie stutzt
und schaut von mir zu Anna.
"Wo ist eigentlich Kerstin?"
"Schläft schon", sage ich schnell, bevor Anna was anderes sagen kann.
"Also..." Frau Hilde sucht ihren Faden, "ich bitte den Dieb -entschuldigt das harte Wort -, das Geld
zurückzulegen. Es wird ihm nichts passieren."
Ich mische mich ein: „Ihre Tür ist immer offen, da kann man rein und raus, ohne gesehen zu werden." Hilde
wirft mir einen schnellen Blick zu.
"Die Tatsache, dass wir alle unsere Türen offenlassen, geschieht mit voller Absicht. Wir leben hier wie in
einer großen Familie, wo man Vertrauen zueinander hat. Um so härter hat es mich getroffen, dass jemand mein
Vertrauen ausgenutzt hat."
"Aber wieso einer von uns?" frage ich. "Auch die Haustür ist immer auf."
"Theoretisch stimmt das, Sophie", sie versucht sachlich zu wirken, "aber drei Diebstähle in kurzer Zeit im
selben Haus - da macht man sich schon seine Gedanken..."
"Aber - ich möchte dazu noch etwas sagen."
Sie nickt mir höflich, aber nicht begeistert zu.
"Aber - ist es nicht auch eine Verführung, wenn man alles offenlässt?"
"Nein Sophie. Du hast anscheinend nicht zugehört. Oder ist es in einer Familie üblich, dass die Schwester
den Bruder bestiehlt oder die Tochter die Mutter?"
Natürlich nicht, denn die Mitglieder einer Familie sind gleichgestellt, alle leben vom gemeinsamen Geld
zum Beispiel - aber hier ist ein Vater Millionär und schenkt der Tochter eine goldne Uhr, und eine andere hat
einen Freiplatz, weil sie arm, aber sooo begabt ist. Hier sind nicht alle gleich, und das mit der Familie ist bloß
ein frommer Wunsch.
"Alle Kinder bekommen dasselbe Taschengeld", versichert sie nachdrücklich, aber ich weiß, dass viele ihre
"Zusatzscheine" (von der liebenden Mama) im Dorf verjubeln.
Hilde redet weiter, und ich werde das Gefühl nicht los, dass sie sich so aufregt, weil es ihr Geld war: eine
persönliche Beleidigung!
Texterläuterung
Das Likörgläschen ist mirverschluckt. . (Eierlikör wird oft aus
speziellen kleinen Schokobechern getrunken, die nach dem letzten Schluck auch gegessen werden.)