Als es Abend wurde, ging ich wieder durch das Industriegebiet. Bei einem Schnellimbiss kaufte ich mir
einen Hamburger. Ich kam zu einem riesigen Gebäude, einem Möbelgroßmarkt, und ging hinein. In der
Eingangshalle standen Dutzende von Lehnstühlen, waren Dutzende von Fernsehecken simuliert worden. Ich
ging durch die Sammlung von Lebensentwürfen und wunderte mich, wie sehr sie sich alle glichen. Ich
versuchte, mir das eine oder andere Möbelstück in meiner Wohnung vorzustellen. Und dann dachte ich an
Larissa und fragte mich, welche Fernsehsessel sie und ihr Mann gekauft hatten. Und ich dachte an ihren Mann,
der jetzt allein in der Wohnung saß und vielleicht an Larissa dachte. Und ich dachte an ihr Kind, dessen
Namens ich mich nicht erinnerte. Bestimmt schlief es jetzt schon.
„Wie oft wollen Sie noch kommen?" fragte die Oberschwester.
„Bis ich genug Material habe", sagte ich.
„Ich hoffe, Sie nutzen ihre Situation nicht aus."
„Wie meinen Sie das?"
„Frau Lehman ist seit einem halben Jahr isoliert. Sie ist empfänglich für Aufmerksamkeit jeder Art. Wenn
sie enttäuscht würde, könnte das den Verlauf ihrer Krankheit negativ beeinflussen,"
„Bekommt sie keinen Besuch?"
„Nein", sagte die Oberschwester, „ihr Mann kommt nicht mehr." Larissa trug wieder ihre Jeans. Sie hatte die
Haare gekämmt und war geschminkt. Ich schaute sie an und dachte, sie sei schön.
„Das ist das Schlimmste", sagte Larissa, „Dass niemand mich berührt. Seit einem halben Jahr. Nur mit
Gummihandschuhen. Ich habe gemerkt... als mein Mann mich hierherbrachte, habe ich gemerkt, dass er sich
fürchtete vor mir. Er hat mich auf die Wangen geküsst und gesagt, in sechs Monaten ... Es war, als sei ich erst
in diesem Augenblick krank geworden. Und als wir hier in die Klinik kamen, da hat er plötzlich Angst gehabt
vor mir."
Ich schwieg. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Larissa legte sich hin und weinte. Ich trat an ihr Bett und
legte ihr die Hand auf den Kopf. Sie richtete sich auf und sagte: „Du musst deine Hände desinfizieren."
Ich hatte genug Material für meine Geschichte zusammen. Ich aß in der Stadt. Aber ich ertrug den Rummel
nicht und nahm bald den Bus zurück zum Hotel. Als ich an der Endstation ausstieg, dachte ich an Larissa. Sie
hatte mir erzählt, dass sie einmal gegen Abend durchgebrannt sei. Als eine Schwester vergessen hatte, die
Zimmertür abzuschließen. Bis zur Bushaltestelle sei sie gegangen. Sie habe etwas abseits gestanden und
zugeschaut, wie die Leute aus der Fabrik gekommen seien. Und sie habe sich vorgestellt, dass auch sie von der
Arbeit komme. Dass sie nach Hause gehe. Auf dem Heimweg noch schnell etwas einkaufe und dann heimgehe
und koche für ihren Mann und ihr Kind. Und dass sie nachher zusammen fernsähen. Dann sei sie zurück in die
Klinik gegangen.
Am nächsten Tag reiste ich ab. Ich ging noch einmal kurz bei Larissa vorbei um mich zu verabschieden. Am
Morgen schneite es leicht. Die Pfützen auf dem Weg zur Klinik waren gefroren. In der Zeitung las ich, dass
gestern auf den Autobahnen des Bundeslandes vier Autofahrer durch Eisregen umgekommen waren. „Blitzeis",
hieß es in der Schlagzeile.
Ich ging über das Gelände der Klinik. Zum ersten Mal fielen mir die vielen Gesichter an den Fenstern auf.
Und mir fiel auf, dass die Besucher schneller gingen als die Patienten. Einige weinten und hielten den Kopf
gesenkt, und ich hoffte, dass ich mich nicht schämen würde, wenn ich jemals um jemanden trauern sollte. Die
Minigolfanlage am Rande der Klinik war von Laub bedeckt. Im Wald gäbe es Rehe, hatte Larissa gesagt. Und
Eichhörnchen. Und sie futtere die Vögel auf ihrem Balkon. Larissa wartete schon auf mich. Im Fernsehen lief
ein Tierfilm. Der Ton war ausgeschaltet. Ich sah eine Herde Gazellen lautlos über eine Steppe galoppieren.
„Jetzt kommen bald wieder die alten Filme. Vor Weihnachten", sagte ich.
„Das sind meine ersten Weihnachten in der Klinik", sagte Larissa, „und meine letzten. Es geht so schnell.
Manchmal schalte ich den Fernseher aus, damit die Zeit nicht so schnell vergeht. Aber dann halte ich es noch
weniger aus."
Wir schwiegen lange. Schließlich sagte sie, sie werde durch zunehmende Schwäche sterben, wenn der
Gewichtverlust zu groß werde. Oder durch einen Blutsturz. Dann huste man Blut. Das tue nicht weh, aber es
gehe sehr schnell, ein Paar Minuten, und könne ganz plötzlich kommen.
„Warum erzählest du mir das?"
„Ich dachte, es interessiert dich. Deswegen bist du doch hier."
„Ich weiß nicht", sagte ich, „ja, vielleicht."
„Ich kann mit niemandem sprechen hier", sagte Larissa. „Sie sagen mir nicht die Wahrheit. Ich habe Angst.
Und die Angst geht nicht mehr weg. Bis zuletzt." Die Angst sei, wie wenn man das Gleichgewicht verliere.